Das Paradox der Freiheit: Warum betrachtet die Tora Sklaverei als schlimmer als Mord?

**Das wöchentliche Kapitel „Mishpatim“ eröffnet uns eine einzigartige Welt von Gesetzen, die nicht bloß die gesellschaftlichen Beziehungen regeln, sondern das Wesen der menschlichen Natur, ihre moralische Verantwortung und den Weg zur spirituellen Befreiung offenbaren. Die Tora ist nicht nur ein Buch der Gebote, sondern auch ein Leitfaden, der die höchsten spirituellen Prinzipien mit der Realität der materiellen Welt verbindet.
„Der Mensch lebt nicht allein in den Grenzen seiner Persönlichkeit, sondern auch im Licht des göttlichen Gesetzes, das sein Sein formt. Er bewegt sich im Strom der Geschichte, bestrebt, von der Begrenzung zur Befreiung, von der Getrenntheit zur Einheit zu gelangen.“

So sind die Gesetze der Tora nicht als Grenzen zu verstehen, sondern als Flügel, die dem Menschen ermöglichen, über das Chaos der materiellen Realität hinauszufliegen und ihn zur wahren Freiheit zu erheben. In diesem Licht gewinnt die Abfolge der im Kapitel „Mishpatim“ dargestellten Gesetze eine besondere Bedeutung.

Die Tora beginnt mit dem schwersten Verbrechen – dem Entzug des Lebens.
„Wenn aber ein Mensch boshaft gegen seinen Nächsten sinnt, um ihn heimtückisch zu töten, so soll er ihn von meinem Brandopfer nehmen und zum Tode verurteilen“ (Shemot 21,14).
Diese kategorische Aussage verdeutlicht, dass keine äußere Frömmigkeit, keine Verdienste oder religiösen Rituale den Mörder vor der Strafe bewahren können.

Doch erstaunlicherweise steht vor diesen Gesetzen ein ganzer Abschnitt, der sich mit der Sklaverei befasst. Anstatt mit dem höchsten Verbrechen – dem Mord – zu beginnen, eröffnet die Tora die Gesetzgebung mit der Diskussion über das Schicksal des Sklaven. Warum?

Auf den ersten Blick mag es erscheinen, als sei Sklaverei weniger entsetzlich als Mord. Doch die Tora betrachtet die Realität anders.
Sklaverei ist nicht bloß eine Einschränkung der körperlichen Fähigkeiten eines Menschen, sondern der Entzug des Allerwichtigsten – der Freiheit der Wahl, des bewussten Strebens nach Wahrheit und der Verbindung mit dem eigenen spirituellen Selbst.
Wenn ein Mensch einem anderen das Leben nimmt, tötet er dessen Körper. Doch wenn er seinen Nächsten versklavt, unterwirft er dessen Willen, bricht seine Seele und beraubt ihn der Möglichkeit, er selbst zu sein.
„Es gibt keine schrecklichere Dunkelheit als jene, in der der Mensch seinen göttlichen Funken nicht mehr spürt, in der sein Leben die Freiheit der Wahl verliert und seine Seele zum Werkzeug fremder Mächte wird.“

In unserer Welt, in der Sklaverei offiziell verboten ist, könnte man meinen, dieses Problem sei längst überwunden. Doch Sklaverei nimmt neue Formen an.
Ein Mensch kann Sklave seiner Leidenschaften, der Gesellschaft, der Mode oder seines eigenen Stolzes sein. Er mag in der Illusion der Freiheit leben, tatsächlich aber von den Fesseln äußerer Zwänge, fremder Erwartungen und sozialer Standards gebunden sein.

Die Tora lehrt uns, dass nur der Sklave des Höchsten wirklich frei ist. Ein Mensch, der sich der Wahrheit verschreibt, befreit sich von der Macht des Irdischen, indem er seine Seele im reinen göttlichen Licht erstrahlen lässt.
Dies ist der Grund, warum die Tora zunächst über Sklaverei spricht und erst danach andere Gesetze erlässt. Denn nur wer sich von allen äußeren Formen der Versklavung befreit hat, kann wahrhaft zum Träger der Gerechtigkeit, zum Schöpfer einer moralischen Welt und zum Gefäß des göttlichen Gesetzes werden.

„Freiheit bedeutet nicht, das zu tun, was man will, sondern die Kraft, das zu tun, was notwendig ist.“

Als das Volk Israel die Tora am Berg Sinai empfing, wurde es nicht nur physisch befreit – es trat aus der geistigen Sklaverei heraus. Es hörte auf, Sklave Ägyptens zu sein, und – was noch wichtiger ist – es hörte auf, Sklave seiner selbst zu sein.

Die Tora kann nicht von außen aufgezwungen werden. Sie lässt sich keinem Menschen vermitteln, der sich innerlich nicht frei fühlt. Genau deshalb steht im Kapitel „Mishpatim“ vor den Gesetzen über die Rechtsprechung die Diskussion über Sklaverei: Wenn du nicht frei bist, kannst du nicht gerecht urteilen, du kannst keine Gesellschaft der Gerechtigkeit errichten und dem göttlichen Gesetz nicht folgen.

Das Kapitel „Mishpatim“ lehrt uns, dass der Mensch nicht für Sklaverei, sondern für Freiheit geschaffen ist. Aber Freiheit in der Tora ist keine Anarchie, keine Allgewalt, sondern die Fähigkeit, dem Pfad der Wahrheit zu folgen, ungeachtet der Hindernisse.
Wahre Freiheit ist nicht ein Leben ohne Einschränkungen, sondern ein Leben, in dem der Mensch den Dienst am Höchsten wählt – ein Leben, das nicht von Angst, Leidenschaften oder Umständen, sondern von einem klaren Bewusstsein seiner Mission geleitet wird.
„Wenn der Mensch erkennt, dass sein ganzes Leben die Suche nach dem Göttlichen ist, wenn er sich mit dem höchsten Willen vereint, erreicht er wahre Freiheit.“

In der modernen Welt, die von Versuchungen, Ideologien und aufgezwungenen Bedeutungen durchdrungen ist, klingt dieses Kapitel wie ein Aufruf zur Befreiung. Die Tora lehrt uns, nicht Sklaven unserer Schwächen zu werden, nicht falschen Autoritäten zu folgen und nicht zuzulassen, dass äußere Kräfte unser Wesen bestimmen.

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