Wer ist der Meister des Samstags?
Dima Gladkow
übersetzt von Viktor Frank
Und Jesus sprach zu ihnen: „Der Sabbat ist für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat. Deshalb ist der Menschensohn auch Herr über den Sabbat.“ (Evangelium nach Markus 2:27–28)
Auf den ersten Blick scheint dieser Satz eine Behauptung Jesu über seine eigene Überlegenheit über den Schabat zu sein.
Viele Theologen und Kommentatoren lesen ihn als: „Der Sohn Gottes, der Messias, hat sowohl das Gesetz über den Schabat als auch die Macht, es zu ändern.“
Wenn wir jedoch den gesamten Abschnitt aufmerksam lesen, ohne die letzte Zeile aus dem Kontext zu reißen, und versuchen, die Gedankenkonstruktion zu durchdringen, kann sich eine ganz andere Verständnisweise eröffnen.

Was wird tatsächlich gesagt?
Lass uns mit der Grammatik beginnen. Der Schlüssel in diesem Satz ist das Wort „deshalb“. Es steht am Anfang der Schlussfolgerung – als logischer Übergang: Aus dem oben Gesagten folgt das, was weiter gesagt wird.
Im griechischen Text steht ebenfalls die Konjunktion ὥστε („so dass, deshalb“), die die ursächliche Verbindung betont.
Das bedeutet: Aus der Aussage, dass der Schabat dem Menschen dient und nicht umgekehrt, wird die Schlussfolgerung über die Herrschaft des Menschensohnes über den Schabat gezogen.
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Und jetzt denken wir nach: Wen meint Jesus in der ersten Aussage?
Er sagt: „Der Sabbat ist für den Menschen gemacht“ – es geht eindeutig um die Menschen im Allgemeinen, nicht um sich selbst.
Das heißt, der Schabat ist ein Werkzeug, ein Geschenk, das zum Nutzen des Menschen bestimmt ist und nicht dazu, dass der Mensch sein Diener wird.
Dann legt uns auch die Logik der Schlussfolgerung nahe:
Der Menschensohn = der Mensch. Denn wenn der Schabat dem Menschen gegeben ist und nicht umgekehrt – bedeutet das, dass der Mensch über dem Schabat steht. Genau deshalb ist der Mensch der – Herr des Schabats.
Und wie sieht es mit dem Ausdruck
„Sohn des Menschen“ aus?
Wir wurden von Kindheit an gelehrt, „Sohn des Menschen“ ausschließlich als Titel des Messias zu verstehen. Und in einem bestimmten Kontext der Evangelien ist das tatsächlich so. Aber Sprache ist nicht eindeutig.
Im Tanach (hebräische Bibel) kommt der Ausdruck ben adam –
„Sohn des Menschen“ – Dutzende Male vor.
Und meistens – ganz und gar nicht als Titel des Meschiach, sondern als Bezeichnung für einen gewöhnlichen Menschen.
So wendet sich Gott an den Propheten Hesekiel:
„Menschensohn, sprich…“ (Hesekiel 7,2).
Dasselbe wird im Buch Hiob über den Menschen gesagt (Hiob 25,6).
Dies ist ein fester Ausdruck, der einen Vertreter der Menschheit bezeichnet, einen Sterblichen, sterblichem, etwas, das dem Göttlichen entgegengesetzt ist. In diesem Sinne könnte Jesus, wenn er von “dem Sohn des Menschen” spricht, allgemein den Menschen meinen – als Träger der Würde, der von Gott den Schabat als Geschenk erhalten hat.
Es ist auch wichtig zu beachten: Im ursprünglichen griechischen Text des Evangeliums sind alle Buchstaben in Großschrift. Es gibt keinen Unterschied zwischen Groß- und Kleinbuchstaben. Das bedeutet, dass die Entscheidung, “Sohn” mit einem Großbuchstaben zu schreiben, eine Wahl des Übersetzers und nicht des Autors des Textes ist. Diese Wahl kann (bewusst oder unbewusst) unsere Wahrnehmung des Sinns beeinflussen.
3 Warum ist das wichtig?
Dieser Text wurde jahrhundertelang zur Rechtfertigung der Vorstellung herangezogen, Jesus habe den Schabat „aufgehoben“ oder sich „über“ das Gesetz gestellt. Aber wenn wir einen solchen Ansatz verfolgen, verliert der Text seinen logischen Zusammenhang:
Wenn der Schabbat dem Menschen dient, wie folgt daraus,
Was bedeutet es, dass jemand, selbst wenn er besonders ist, “Herr über den Schabat” sein kann?
Im Gegenteil: alles wird logisch, wenn man versteht, dass Jesus sich an die Zuhörer richtet und von ihnen spricht, und nicht nur von sich selbst. Er lehrt, dass der Schabbat keine Kette, sondern ein Weg ist. Er ist nicht dazu da, den Menschen zu versklaven, sondern ihm dabei zu helfen, näher zu Gott zu kommen.
Dies ist der Tag, der „die Tür öffnet“ und zum Meister führt. Der Schabat ist wie ein treuer Diener, wie ein Führer, der uns zum Schöpfer begleitet.
Dieser Tag ist der, der die “Tür öffnet” und uns zum Herr führt.
Der Schabat ist wie ein treuer Diener, wie ein Reiseführer, der uns zum Schöpfer begleitet.
Bedeutet das, dass der Mensch über dem Schabbat steht?
In gewissem Sinne ja. Aber nicht in dem Sinne, dass man den Schabat vernachlässigt oder mit ihm macht, was man will.
Der Schabat ist der Diener Gottes, nicht des Menschen. Aber gerade weil der Mensch eingeladen ist, Gott zu begegnen, dient dieser Diener nicht irgendjemandem, sondern dem Menschen.
Dies ist ein sehr subtiler Punkt. Der Mensch steht nicht über dem Schabat, er steht über der Unterordnung unter den Schabat.
Der Schabat ist nicht der Gastgeber, sondern der Weg. Der Mensch ist aber nicht der „Besitzer“, sondern ein eingeladener Gast. Jesus erinnert uns daran, dass die Bedeutung des Sachabat nicht in der Formalität liegt, sondern in der lebendigen Verbindung des Menschen mit dem Göttlichen.
Wenn man die Worte Jesu in diesem Kontext versteht, wird offensichtlich: Er hebt den Schabat nicht auf und mindert ihn nicht, sondern er gibt ihm seine wahre Bedeutung zurück.
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Der Schabat ist kein System von Verboten, sondern eine besondere Zeit der Begegnung, der Ruhe, der spirituellen Tiefe. Er dient dem Menschen, weil der Mensch zur Begegnung mit Gott berufen ist.
Aber es ist wichtig sich daran zu erinnern: Wenn du der Herr des Schabats bist, dann verhalte dich wie ein wahrer Gastgeber – verantwortlich, mit Respekt, mit dem Verständnis für die Heiligkeit des Moments. Nutze den Schabat nicht, um von Gott wegzulaufen, sondern um dich ihm zu nähern.